Realgymnasium Rämibühl Zürich

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Das RG zu Gast am Churchill Europe Symposium

"Treten Sie einer Partei bei, egal welcher!"

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Am Dienstag, 16. April hielt Friedrich Merz, der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, einen Vortrag an der Universität Zürich. Beim anschliessenden Abendessen konnten zwei RG-Schülerinnen und ein RG-Schüler den Anwesenden ihre Sicht auf die europäische Integration darlegen.

Merz ist derzeit einer der gefragtesten Politiker Europas und wird von einigen bereits als nächster deutscher Bundeskanzler gehandelt. Er vertritt in der Wirtschafts-, der Sicherheits-, der Migrations- und auch in der Europapolitik klare Haltungen. So wurde sein Vortrag in der ehrwürdigen Aula der Uni Zürich, die bis auf den letzten Platz besetzt war, auch mehrfach durch Protestaktionen gestört. Merz liess sich nicht beeindrucken und äusserte sich pointiert auch zu heiklen Themen.

Beim anschliessenden Diner im Restaurant Uniturm hoch über den Dächern Zürichs hatten Philine Oldenhage, Max Hafner (beide 6i) und Frida Korte (6d) ihren Auftritt. Nacheinander schilderten sie in kurzen Statements, wie sie zu Europa und dem Projekt der Europäischen Integration sehen, stellvertretend für die Jugend, an die sich Winston Churchill in seiner Rede 1946 in Zürich gewandt hatte mit den Worten: «Let Europe arise!» Friedrich Merz zeigte sich berührt von den Voten der RG-Schüler:innen. Es sei ermutigend und wichtig, im Tagesgeschäft der Europapolitik die grossen Leitlinien nicht aus den Augen zu verlieren, die Anliegen, Ideen und Träume der Jugend nämlich. Sein Dank und seine Wertschätzung der alles andere als unkritischen Voten war aufrichtig. «Treten Sie einer Partei bei, egal welcher!» rief er Frida, Max und Philine zu.

Das Realgymnasium war nun bereits zum sechsten Mal eingeladen, mit einer Delegation am Churchill Symposium teilzunehmen, an welchem jeweils ein hochkarätiger Gast aus Europa eingeladen wird. Organisiert wird das Symposium vom Europa Institut an der Universität Zürich 

 

Statement von Philine Oldenhage 

Lieber Herr Merz, lieber Herr Professor Kellerhals, liebe Anwesende

Wir wurden gebeten – stellvertretend für unsere Generation – unsere Sicht auf die Themen des heutigen Abends einzubringen und – sehr individuell – darzulegen, was Europa, die Schweiz und Churchills Aufforderung «Let Europe arise» für uns bedeuten. Vielen Dank für die Einladung!

Ich beginne am Anfang. Bei meiner DNA. Wenn ich die Resultate der DNA-Analyse meiner Mutter über die meines Vaters lege, scheint es, als hätte ich Wurzeln in ganz Europa, denn alles, von Island bis zum Stiefel Italiens, von Portugal bis Griechenland und noch ein bisschen darüber hinaus ist bunt eingefärbt. Ich komme aus Europa. Ganz Europa. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Diese Erkenntnis hatte ich im kalten Februar 2022. Im verregneten April darauf reiste ich alleine für drei Wochen ins warme Nizza, um Französisch zu lernen. Dabei traf ich Nikola und Nina, die mir die Augen in eine ganz andere Richtung öffneten. Jeden Tag liefen wir fast 30'000 Schritte an der Strandpromenade von Nizza, entlang. Ich brachte ihnen ‘Chuchichäschtli’ bei. ‘Gopfridstutz’, ‘Das haut eim de Nuggi use’, (‘De Papst hät zSpiez sSpäck Bsteck zspaat bstellt’). Nina brachte mir kroatische Redewendungen bei, Nikola einen Haufen serbischer Ausdrücke. Ausserdem redete er Steirisch mit mir. ‘Furtgehn’ heisst in den Ausgang gehen, feiern gehen. Das ist alles, was ich noch weiss. Obwohl dieser ‘Kulturaustausch’ oberflächlich blieb, begann ich, wieder zuhause, zwischen Üetliberg und Züriberg, die Balkanstaaten zu googeln. Wo genau liegt Bosnien? Liegt Serbien am Meer? Kroatien ist ja viel mehr als ein paar Inseln zum Schnorcheln.

Ich vergass all das wieder, bis die zwei mich diesen Sommer im schönen Zürich besuchten. Es schüttete das ganze Wochenende, trotzdem liefen wir uns unter Regenschirmen die Füsse wund. Zuerst das Übliche: Wie geht’s? Was läuft? Was machst du nach der Schule? Militär? Uni? Wo? In Wien? Wie schön! Und du? In Graz! Auch toll. Und was? Jus! Boah, könnt’ ich nicht. Und ich? Weiss’ noch nicht. Dann erzählten sie mir von ‘der Heimat’. Von der Schule in Kroatien und der Steiermark. Von den Grosseltern in Serbien. Vom Opa aus Bosnien. Von den Kulturen. Vom Massaker von Srebrenica. Vom Krieg. Ein Krieg, den ich bloss vom Hörensagen kenne. Ein Krieg, der den Alltag von Nikola und Nina bis heute färbt. Eine mir vollkommen fremde Kultur. Die Details weiss ich nicht mehr, die Fakten sind nicht hängengeblieben. Bloss ein Gefühl. Wie ich mit ihnen durchs Niederdörfli ging, wir zusammen auf dem Lindenhof standen, zusahen, wie der Regen auf die Limmat prasselte, wir im Hauptbahnhof Sprünglipralinées auf der Zunge zergehen liessen und sie mir von sich erzählten, von ihrem Europa, hier, in meinem Europa. Da dachte ich, wie gern ich mit ihnen in den Nachtzug steigen würde. Und ich stellte es mir vor: zuerst nach Wien und dann nach Graz, durch die Steiermark und dann weiter mit dem Bus durch Slowenien nach Kroatien. Es war mir nicht genug, dass Osteuropa in meiner DNA-Analyse bunt ist, dass die Balkanstaaten bunt sind. Ein Gebiet auf meiner Landkarte wird erst wirklich bunt, wenn ich es erlebe, wenn ich es mit Gesichtern und Geschichten verbinden kann. Nikolas und Ninas Bild von Zürich ist jetzt sicher nicht mehr grau und mein Österreich, meine Steiermark, mein Kroatien, mein Serbien und mein Bosnien-Herzegowina haben eine Tönung bekommen. Und ich hoffe, dass aus dieser Tönung eine Färbung wird, wenn ich nächstes Jahr in Wien anfange zu studieren. Wenn ich mit Nina in ihre Heimat in Kroatien reise. Wenn ich mit Nikola seine bosnischen und serbischen Verwandten besuche. Wenn mit den beiden ‘furtgehe’.

Sind es nicht diese Erlebnisse, die Europa eigentlich ausmachen? Genau dann, wenn man rauskommt aus dem Schweizer Tal. Aus der Sprache. Aus dem Altbekannten. Und mit Menschen spazieren geht und redet.

 

Statement von Max Hafner 

Meine DNA-Analyse würde möglicherweise Ähnliches wie bei Philine ergeben, sicher aber eine Herkunft von weiter weg dokumentieren. Denn 1917 fand meine Familie, geplagt von den Wirren der Russischen Revolution, eine Zuflucht in der Mitte Europas, in der Schweiz. Dieses Land, bekannt für seinen Freiheitsgeist, öffnete ihnen die Türen zu einem Leben in Sicherheit, Würde und Freiheit. Wir sind heute hier wegen der Vision eines freien Europas, das meine Familie einst suchte.

Europa ist nicht nur ein geographischer Raum. Es ist eine Idee, die auf den Prinzipien der Freiheit, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Würde des Individuums beruht. Es sind diese Werte, die uns zusammenbinden - nicht blosse Institutionen. Europa muss stärker zusammenstehen, um unsere Werte gegen innen und aussen zu verteidigen.

Jedoch bekenne ich, dass ich gerne in den Vereinigten Staaten von Amerika studieren möchte. (Informatik studieren!) Der Grund? Trotz ähnlichen Voraussetzungen spüre ich in Europa einen Mangel an Optimismus. Während man sich im Rest der Welt fragt, wie man etwas machen kann, fragt man sich in Europa oft zuerst einmal warum man es nicht tun soll. In zu vielen Aspekten ist das europäische Projekt zu bürokratischen Massnahmen von gesichtslosen Bürokraten über die Köpfe der Bevölkerung verkommen. Zu oft gehen so die gemeinsame Verteidigung und Förderung von Freiheit, Sicherheit und Wohlstand verloren, zu oft geht das gemeinsame Eintreten für die europäischen Werte verloren.

Meine Einschätzung spiegelt keine Geringschätzung Europas wider, sondern einen Aufruf an uns alle: Europa muss seinen Frontier Spirit neu beleben. Wir müssen die Freiheit des Redens und Denkens gegen innen und aussen stärker verteidigen und wettbewerbsfähiger werden.

Ich träume von einem Europa, das nicht nur auf seinen Lorbeeren ruht, sondern von einem, das den Mut hat, den Optimismus und die Weitsicht aufbringt, Neues zu wagen. Ein Europa, das Freiheit als Plattform für Innovation und Fortschritt sieht, denn Freiheit, wie Europa sie bietet, verpflichtet sie auch zu füllen.

Lasst uns nicht nur das Erbe unserer Vorfahren bewahren, sondern auch Wege schaffen, auf denen zukünftige Generationen prosperieren können. Lassen Sie uns gemeinsam ein Europa bauen, das nicht nur durch seine Geschichte definiert wird, sondern auch durch seine Zukunft.

Statement von Frida Korte 

«Let europe arise» - Max, du rufst uns den Satz, mit dem Churchill seine Rede 1946 in Zürich beendete, also erneut zu. Ich muss aber gestehen: Als ich das erste Mal mit der Rede und somit auch mit diesem Zitat konfrontiert wurde, fühlte ich mich nicht wirklich inspiriert. Das Zitat hat eher ein mulmiges Gefühl in mir hinterlassen. Präziser gesagt ein Gefühl der Schuld über diesen Aufstiegsoptimismus. Denn der Aufstieg Europas ist unter anderem Folge einer Kolonialgeschichte, geprägt von Ausbeutung, deren Strukturen sich noch bis ins Heute ziehen. Sie ist somit leider ein Teil der europäischen Identität und somit doch auch irgendwie meiner Identität.

Ich selbst komme nicht aus der Schweiz, sondern aus Deutschland, doch bin als erste meiner Familie hier geboren und auch aufgewachsen. Dadurch habe ich nie ein wirkliches Nationalgefühl entwickelt. Da ich aber auch nur ein Mensch bin und das Bedürfnis habe, mich irgendwo zugehörig zu fühlen, würde ich mich am ehesten in das Schublädchen der Europäer*innen einordnen. Und dafür bin ich sehr dankbar, denn als Europäerin geniesse ich unglaubliche Privilegien.

Wie zum Beispiel, dass ich mir in meinem anstehenden Zwischenjahr nach der Matura, in dem ich eine Interrailreise durch Europa geplant habe, keine Gedanken über irgendwelche Grenzverläufe machen muss.

Wir können also sehr froh sein, dass wir hier in einer Art und Weise leben können, die für viele nur eine Wunschvorstellung ist. Man könnte Europa fast schon als ein Eldorado bezeichnen und unser Reichtum besteht aus unserem Frieden, unserer Freiheit, unserem Wohlstand, aber auch aus unseren Privilegien. Ich und viele andere haben aber für das Erhalten dieser Privilegien nichts gemacht, ausser am richtigen Ort zur richtigen Zeit geboren zu sein, obwohl diese Privilegien doch eigentlich jedem zustehen sollten.

Es ist also unsere Pflicht, die Offenheit unserer Grenzen sowohl Europas gegenüber der Welt als auch innerhalb Europas als einen der wichtigsten Grundbausteine unserer europäischen Zukunft zu wahren. Bedingt durch unsere Kolonialvergangenheit und der darauf aufbauenden Lebensqualität, die wir geniessen, ist es zu einem gewissen Grad sogar unsere Verantwortung, die wir nicht einfach ignorieren dürfen. Die Verantwortung trägt aber Europa nicht nur international, sondern auch die Europäischen Staaten untereinander. Wenn wir weiterhin gemeinsam in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben wollen, müssen wir solidarisch sein. Paradebeispiel ist natürlich die Schweiz, die sich bei Fragen der politischen Einigung Europas gerne zurückhält. Dabei wäre es wichtiger, Europa als einen sozialen und kulturellen Raum zu sehen, der geografisch ganz Europa einschliesst und den es für eine perspektivenreiche Zukunft zu pflegen gilt.

Damit nämlich auch noch Philines Kinder im Erasmusprogramm aufschlussreiche Konversationen mit den Ninas und Nikolas ihrer Zeit haben werden und damit Max vielleicht nach seinem Informatik-Studium in den USA seine Zukunft auch wieder in Europa sieht.

Deswegen, Herr Merz, würde ich gerne den Titel Ihres Referats ergänzen: Gemeinsam für ein verantwortliches und starkes Europa in Frieden, Freiheit, Wohlstand und Solidarität!

 

Bilder der Veranstaltung: Cornelia Kindsvater