Realgymnasium Rämibühl Zürich

Bild: Keno Brechlin (5a)

Das Dasein als DistanzlernerIn

Nicht nur für uns Lehrpersonen hat sich seit der Schulschliessung viel verändert. Innerhalb kürzester Zeit mussten sich auch die SchülerInnen an eine Schule ohne Präsenzunterricht gewöhnen. Wie haben sie die ersten Wochen wahrgenommen?

Die ersten 7 Texte sind auf Initiative der Redaktion des RG-Magazins entstanden. Vordergründig ging es um die Abbildung persönlicher Erfahrungen und Überlegungen der Distanzlernenden. Das neue Heft, das weitere spannende persönliche Einblicke enthalten wird, erscheint im Juni.

Der letzte Text, eine "Corona-Dystopie", wurde von einer Erstklässlerin im Rahmen eines Schreibprojekts zum Thema "Spannend erzählen" verfasst.

Die folgenden Beiträge zeigen, wie herausfordernd und intensiv diese Zeit für viele gewesen ist. Der Lockdown scheint Spuren hinterlassen zu haben. (PJ)

Clara Sarnthein (3b): Vermisst wird...
"Lang, länger, am längsten. Zu spät."

… die Schule? Nein. Oder doch? Wenn ich es mir recht überlege, gibt es neben meinen Freunden doch das ein oder andere, was ich vermisse – oder auch nicht:

Ich vermisse keineswegs den anstrengenden Schulweg, der mich schon schwächt, bevor der Unterricht begonnen hat. Morgens, 07:13 Uhr. Ich renne die Strasse rauf, in der Hoffnung, den Bus nicht zu verpassen. 07:14. Schnaufend stürze ich durch die Tür in den überfüllten Bus. Ein beissender Gestank, wahrscheinlich eine Mischung aus Schweiss, entstehend durch die brennende Hitze im Vehikel, und dem fehlenden Kontakt von Zahnbürste und Mund, steigt in meine Nase. 07:15. Eng auf eng, Schulter an Schulter. 07:16. Ein klaustrophobischer Anfall beginnt sich anzubahnen, während hyperaktive Menschen sich lautstark mit ihren Gesprächspartnern am anderen Ende des Busses unterhalten und meine heilige Ruhe stören, welche ich für ein entspanntes Aufwachen benötige. Über die Fahrt im Tram 3 möchte ich gar nicht erst berichten. Laut, lauter, am lautesten.

Ich vermisse die liebliche Stimme einer Lehrperson, die meine Ohren erfüllt. Gegen das enorme Wissen, welches sie vermittelt, kommt die SimpleClub-Melodie auf Youtube leider nicht an. So schön die Melodie auch ist, inzwischen verfolgt sie mich überallhin. Unter der Dusche, beim Zeichnen, beim Joggen. Sie ist stets bei mir und lässt mich nie allein. Nachts wache ich schweissgebadet auf, mein Herz schlägt schnell, an meinen Traum kann ich mich nicht erinnern, doch die SimpleClub-Melodie klingt noch in meinem Ohr.

Ich vermisse keineswegs das blaue Buch. Das unbrauchbare Buch des Schreckens. Das Klassenbuch. Ein Unheilbringer. Immer wieder sucht es einen neuen Träger, es raubt allen den Schlaf. Ich kann nur von Glück reden, dass ich nicht der derzeitige Träger des Buches bin, doch das Schwert des Damokles schwebt ständig über mir, drohend, mein Glück zu vernichten und mich mit dieser schrecklichen Aufgabe zu belasten. Bedrohlich, bedrohlicher, am bedrohlichsten.

Ich vermisse meinen Spind. Diesen bemalten Metallkasten. Es ist erstaunlich, wie schön es sein kann, eine Spindtür zu öffnen. Ich kämpfe mich durch die Menschenmassen vor meinem Spind und begrüsse meine Freundinnen. Panisch suche ich meinen Schlüssel. Gefunden. Meine Finger zittern noch vom eben erlebten Stress. Ich drehe den Schlüssel im Schloss um, das gewohnte ohrenbetäubende Quietschen der Spindtür ertönt und ich rieche den metallischen Geruch von endloser Arbeit. Blätter. Unzählige ungelochte Blätter. Sie fallen über mich her. Strukturlos, strukturloser, am strukturlosesten. Gewaltsam zerre ich meine Hefte und Bücher aus dem Spind. Es ist der einzige Weg, diese aus dem überfüllten «Fächlein» heraus zu bekommen, was man der überaus geschickt gewählten Position der Ablageflächen zuschreiben kann. Die restlichen vier Sechstel des Spindes beherbergen Dutzende von leeren Kaugummischachteln, halbvolle Chipstüten, lose Blätter und alle möglichen Arten von Vorräten, über deren Zustand ich mir nicht im Klaren bin und eigentlich auch nicht sein will.

Ich vermisse den Pausenkiosk, welcher eine wichtige Rettungsinsel in meinem Schulalltag ist. Die kulinarischen Meisterwerke, wie beispielsweise die puderbezuckerten Schokoladengipfel, deren Preis mich in den Ruin treibt, zaubern mir ein Lächeln ins Gesicht. Ausserdem ist der Pausenkiosk eine soziokulturelle Begegnungsstätte. Begrüssungen aller Art, ständiges Gewusel, Gedränge. Welten prallen aufeinander. Sechstklässler neben Erstklässlern, Lehrer neben Schülern. Alle stehen sie eng beisammen. Nach anstrengenden Stunden und Prüfungen ist er, der Pausenkiosk, mein Helfer, mein einziger Lichtblick, mein Lebensretter. Hier zuhause gibt es leider nur Vollkornbrot.

Ich vermisse keineswegs die Schlangen. Nicht die Tiere, die Warterei. Egal ob auf der Damentoilette, deren Wartezeiten in keinem Verhältnis zum eigentlichen Zweck des Besuchs stehen, in der Mensa oder im Reif. 12:14 Uhr. Die Schulsachen verschwinden schon mal langsam und unauffällig in der Tasche. 12:15. Es klingelt, man beeilt sich, um so schnell wie möglich im Reif anzukommen, doch der Besuch auf der Damentoilette lässt sich nicht verhindern. Jetzt ist alles umsonst. Bis man dort die ewige Warterei überstanden hat, reicht die Schlange vor dem Reif bereits weit über den Eingang hinaus. Lang, länger, am längsten. Zu spät.

Ich vermisse den Frühling im RG. Der Frühling ist die einzige Jahreszeit, in der die Temperatur erträglich ist. Im Sommer läuft einem während des Unterrichts stetig der Schweiss die Stirn hinunter, die Beine kleben an den Stühlen und die drückende Hitze behindert das Denkvermögen. Heiss, heisser, am heissesten. Im Winter reisst man sich um den Platz an der Heizung oder lässt die Winterjacke an, weswegen man sich dann aber zu Tode friert, wenn die Reise zum Naturwissenschaftsgebäude ansteht. Kalt, kälter, am kältesten. Wenn man schon in die Schule gehen muss, dann jetzt. Vielleicht würde ich sogar den schrecklichen Schulweg und die endlosen Wartezeiten etwas besser ertragen. Jetzt. Im Frühling.

Francesco Rudi (3b): Das Tagebuch eines Distanzlernenden
"Gits nomal e Rundi?"

Tag 1 (16.03.2020): Der erste Tag des Fernunterrichts ist noch besser verlaufen, als ich es je für möglich gehalten hätte. Das erste Auge habe ich um 11:00 Uhr geöffnet, das zweite um 11:15 Uhr, und bis ich das erste Bein aus dem Bett gehoben habe, war es schon fast 12:00 Uhr. Für Frühstück war es leider schon zu spät, deshalb gab es gleich um 13:00 Uhr Mittagessen. Den Wochenplan habe ich mir nicht mal angeschaut. Stattdessen habe ich mich den ganzen Nachmittag meiner Spielkonsole gewidmet und mit meinen Freunden einen Sieg nach dem anderen im neuen Modern Warfare Warzone geholt. An Arbeit war nicht einmal zu denken. An so einen Schulalltag könnte man sich glatt gewöhnen.

Tag 4 (19.03.2020): Heute habe ich mir die Aufgaben für diese Woche genauer angeschaut. Na ja, es war doch ein bisschen mehr als gedacht, vor allem die Aufgaben zu den Gleichungssystemen werden lange dauern…eine Stunde Arbeit heute und eine morgen wird wohl doch nicht reichen. Mich zu überwinden erst anzufangen hat schon eine halbe Stunde gedauert. Die Arbeit war anstrengend, weil ständig irgendwelche Nachrichten von Freunden kamen, die wieder zocken wollten: «Gits nomal e Rundi?»

Tag 5 (20.03.2020): Auch wenn es schwer war, habe ich die restliche Arbeit noch hinbekommen und kann mich nun das Wochenende über wieder mit meinen Freunden amüsieren. Momentane Stimmung: heiter und erleichtert endlich fertig zu sein.

Tag 9 (24.03.2020): Die zweite Woche hat nicht so gut begonnen wie die erste. Zum einen haben wir jetzt viel mehr Arbeit als letzte Woche, was mich zwingt, bereits gegen 10:30 aufzustehen, und zum anderen ist das Wetter so großartig geworden, dass ich lieber rausgehen würde, anstatt Zuhause zu sitzen und irgendwelche Aufgaben zu machen. Ich frage mich, warum ich die Aufgaben überhaupt mache. Ich meine, wer soll mich dafür bestrafen, wenn ich sie nicht mache? Der Hauptgrund, warum ich die Aufgaben nun trotzdem erledige, ist der, dass ich nachher nicht mit dem Stoff hinterherhängen möchte und dann noch mehr arbeiten muss. Das rede ich mir jedenfalls ein.
Auch neu ist, dass ich mich komischerweise dazu entschlossen habe, alle zwei Tage fünf Kilometer joggen zu gehen. Ich weiss nicht, ob es die Langeweile ist oder ob ich es einfach nur tue, um eine halbe Stunde aus dem Haus zu gehen, ohne dass meine Eltern behaupten, ich wäre nicht produktiv genug.

Tag 12 (27.03.2020): Die zweite Woche ist nun endlich vorbei. Mit anderen Worten heisst das, ich kann wieder bis um 11:00 Uhr oder sogar noch länger im Bett bleiben und das tun, was ich will.

Tag 15 (30.03.2020): Heute haben wir den Plan für die vorletzte Woche erhalten und es hat sich gezeigt, dass wir noch mehr Aufgaben bekommen haben als letzte Woche, was auch meine Freunde bemerkt haben: «Wie meinet die das no meh Ufgabe?!». Es scheint so, als müsste ich nun sogar schon über zwei Stunden am Tag arbeiten, um alles fertigzustellen. Leider heisst das, weniger Zeit, um zu gamen. «Gits nomal e Rundi?» Heute leider nicht.

Tag 19 (03.04.2020): Am Ende der dritten Woche bin ich froh, dass nur noch eine Woche bis zu den Ferien bleibt. Die ganzen Videochats mit den Lehrpersonen beanspruchen noch mehr Zeit und vor allem sind sie alle so früh am Morgen. Wer kommt denn auf die Idee, um 9:00 Uhr eine Videokonferenz anzusetzen? Auf jeden Fall habe ich so eine dunkle Vorahnung, dass wir nächste Woche noch mehr Arbeitsaufträge bekommen werden. Ach ja, wir haben ja nächste Woche noch eine Onlineprüfung…. Wird sicher lustig. Momentane Stimmung: Müde und gestresst, aber froh, dass jetzt das Wochenende kommt.

Tag 22 (06.04.2020): In der letzten Woche vor den langersehnten Ferien haben die Lehrer noch mal einen draufgesetzt, wie ich es schon geahnt habe. Aus den anfänglichen sechs Fächern pro Woche sind nun neun geworden. Und das auch noch in der Woche, in der wir einen Tag weniger Zeit haben. Die Arbeitszeit ist von zwei Stunden pro Tag auf über vier Stunden gesprungen. Was ist nur aus dem schönen Homeschooling geworden…

Tag 25 (09.04.2020): Gott sei Dank, ist der letzte Tag auch endlich zu Ende gegangen. Diese letzte Woche war wirklich nicht zum Auszuhalten. Ich frage mich, ob die Lehrpersonen Freude daran haben, uns so viele Aufgaben zu geben, oder ob ich einfach ein bisschen übertreibe. Die erste Option scheint mir aber doch vernünftiger. Egal… jetzt kommen die Ferien und ich kann mich wieder den lustigen Dingen im Leben widmen, nämlich Freunde treffen, gamen oder einfach mal nur lange schlafen. «Gits nomal e Rundi?» Absolut!

Rückblickend kann man dann doch sagen, dass das Homeschooling immer noch um Längen besser ist als der gewöhnliche Unterricht. Schon allein die Tatsache, dass Haus am Morgen nicht verlassen zu müssen, motiviert mich, nach den Ferien so weiterzumachen, von mir aus bis zu den Sommerferien. Ein bisschen Selbstdisziplin dazuzulernen ist natürlich auch nicht schlecht. Ich arbeite dran… Aber sollten wir noch mehr Stoff bekommen… oder sogar online unterrichtet werden, also gemäss dem normalen Stundenplan, dann wars das mit meiner Motivation. Game over.

Gianna Marconi (3b): Das Tagebuch einer Distanzlernenden
"Bauchmuskeln sind definitiv nicht vorhanden!"

Datum: 13. März
6 Wochen! Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. 6 Wochen frei, dachte ich zu diesem Zeitpunkt noch. Unglaublich, in den nächsten 6 Wochen muss ich morgens nicht in die Schule rennen, weil ich wieder einmal meinen Wecker nicht gehört habe und daher zu spät losgegangen bin. Ich muss meine viel zu kurzen Pausen zwischen den Lektionen nicht damit verbringen, auf dem Mädchenklo anzustehen und ich muss mir nicht frühmorgens überlegen, was ich anziehe. Es fühlt sich jetzt schon wie Ferien an. Jetzt heißt es: Trainerhosen an und jeden Tag ausschlafen so lange man will. Diese erfreuliche Nachricht wurde uns heute von unseren Bundesräten mitgeteilt. Heute Morgen kamen wir ahnungslos in die Schule und unser größtes Problem stellte die bevorstehende Matheprüfung dar. Mit der Durchsage von Frau Alder habe ich erst richtig realisiert, dass diese Coronakrise nun auch unseren Alltag beherrscht.

Datum: 20. März
Nun ist bereits eine Woche seit dem Start des Lockdowns vergangen und ich habe Zürich noch nie so gesehen. Ich komme mir vor wie in einem Science-Fiction-Film: die Bahnhofstrasse ausgestorben, vorbeifahrende Trams so gut wie nicht gefüllt und das Bellevue nahezu menschenleer, surreal! Jedoch real ist das Homeschooling. Allgemein wird mein Alltag durch die drei "S" bestimmt. Schlafen, Schule und Schokolade.
Dieses virtuelle Klassenzimmer birgt gewisse Tücken. Diese neue Art von Präsenzunterricht erforderte gute technische Voraussetzungen. So ist es keine Seltenheit, dass man nur einen Teil des Gesagten hören kann, das Mikrofon nicht funktioniert oder die Internetverbindung wieder einmal spinnt, wenn ein Videocall mit der ganzen Klasse ansteht.

Der Englischfilm ist fertiggeschnitten, die Deutschaufgabe abgegeben und der Geschichtstext zu Ende verfasst. Nun heisst es, meine Hirnaktivität auf ein Minimum zu reduzieren und deshalb lasse ich mich auf die Couch fallen. Ich schalte den Fernseher ein und bemerke rasch das unglaublich breite Spektrum an Sendungen. SRF: Tagesschaubeiträgen zum Thema Corona, Sat.1: Talkshow über Corona und zu guter Letzt: Tele Züri mit einer Dokumentation über Corona. In der Hoffnung auf eine bessere und vor allem abwechslungsreichere Auswahl zu treffen, logge ich mich bei Netflix ein. Doch auch hier strahlt mir als erstes das Cover des Dokumentationsfilm „Pandemic“ auf meiner Startseite entgegen, und das ist einer der Momente, in der die ganze Situation anfängt, nervig zu werden. Und dazu kommt noch das andauernd schlechte Wetter, das einen noch zusätzlich auf das Gemüt drückt.

Datum: 3.April
Der Sommer steht vor der Tür und die Sonne scheint hoch am Himmel. Ausreichend Zeit ist nun vorhanden, weshalb man keine Ausrede mehr hat, das Sportprogramm für den Tag auszulassen. Hoch motiviert breiten meine Schwestern und ich also die Sportmatten in unserem Wohnzimmer aus und beginnen ein Workout. Doch schon bei den ersten Übungen werden wir mit der traurigen Wahrheit konfrontiert. Bauchmuskeln sind definitiv nicht vorhanden! Auch, dass das Wohnzimmer nicht der ideale Ort für «Bicycle Crunches» ist, wird mir jedes Mal bewusst, wenn der Fuß meiner Schwester mitten in mein Gesicht landet.

Alle schwärmen nahezu so von der neuen Nähe zur Familie. Das heisst in unserem Fall: ausmisten, aufräumen, putzen. Auch die einzelnen Familienmitglieder lerne ich nun von einer anderen Seite kennen.
Besonders meinem Vater macht die Corona-Situation zu schaffen, denn Unterbeschäftigung ist für ihn ganz schlimm und macht ihn für uns unerträglich. Also sucht er sich irgendwelche Projekte im Haus oder Garten und man kann nur hoffen, dass er uns nicht in seine Planung miteinschliesst. Ausserdem verbringt er einen grossen Teil des Tages damit, Corona-Memes in unseren Familien-Chat zu schicken, welcher seiner Meinung nach der Stimmung lockern sollen. Bewirken tun sie jedoch eigentlich nur das Gegenteil! Nervig, nerviger, am nervigsten.

Und dann gibt es noch meine Schwester. Mit einer Rückholaktion in letzter Sekunde ist sie aus den USA zurückgereist, wo sie einen Teil ihres Zwischenjahres verbracht hat. Nun ist sie zu Hause und hat den ganzen Tag nichts zu tun! Aus Langeweile versucht sie sich kulinarisch weiterzuentwickeln und bäckt dutzende Brote und Kuchen am Tag. Die Hälfte davon ist leider ungeniessbar, doch wenn sie mich fragt, ob es mir schmeckt, nicke ich mit einem etwas gezwungenem Lächeln.

Ach ja, Fernunterricht gibt es ja auch noch: Und auch diese Woche habe ich mich besonders stark dazu motivieren müssen, die anstehenden Matheaufgaben zu lösen. Die reinste Qual! Aber mal ehrlich: Wann ist schon der richtige Zeitpunkt, um das Planungspolygon des Schweizer Kreuz’ zu zeichnen und anschliessend Zmax davon auszurechnen? Denn so sehr ich mich auch bemühe, ist es mir nach Stunden des Überlegens und «Pröbelns» noch immer ein Rätsel, wie man auf das richtige Ergebnis kommen soll. Zum Verzweifeln!

Datum: 12. April
Auch das Osterfest bleibt dieses Jahr nicht von der Corona-Pandemie verschont. Wenn ein physisches Zusammenkommen mit der Familie nicht möglich ist, muss man nach anderen Wegen suchen. Zum Glück gibt es Face Time. Doch so einfach und einleuchtend es für unsere Generation ist, genauso verwirrend ist es für die Großeltern. Nachdem sie endlich einmal verstanden haben, dass man sich das Smartphone bei einem Video-Call nicht ans Ohr halten muss, schreien sie so laut sie können ins Telefon, dass man auf der anderen Seite fast einen Gehörschaden erleidet. Trotz den speziellen Umständen genießen wir den Osterbrunch und die viele Schokolade, die dieses Fest mit sich bringt.

Jedoch so stark uns diese Pandemie auch einschränkt, hat sie auch eine gute Seite: Zum ersten Mal kenne ich die Namen aller sieben Bundesräte und ihre dazugehörigen Departemente, das Einkaufen wird von einer verhassten Aufgabe zu einem Tageshighlight und das Netflix-Abo wird voll und ganz ausgeschöpft.

Jon Baumann (3e): Von den schönen und weniger schönen Seiten meines Daseins als Distanzlerner
"Das Ganze fühlt sich manchmal wie ein Puzzlespiel an."

Ich weiss bis heute nicht wirklich, warum ich das Homeschooling am Anfang so abgelehnt, regelrecht gehasst habe. Ich vermute mal, dass ich meine Klasse vermisst habe - was natürlich auch eine nachvollziehbare Reaktion ist: Schliesslich bin ich auch in der besten Klasse des Schulhauses. Während sich viele über mehr Freizeit freuten, musste ich mich erstmal an diese neue Situation gewöhnen. Keine Freunde treffen, keinen direkten Kontakt, kein Training. Dann kam noch das Problem mit meinem Schlafrhythmus. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich schlafe schlecht.

An manchen Tagen bleibe ich bis um zwölf oder länger wach. An anderen Tagen gehe ich um zehn schlafen, kann dann aber nicht einschlafen, weil mein Körper sich nicht daran gewöhnt ist, so früh ins Bett zu gehen. In dem Fall schlafe ich erst um Mitternacht ein. Wenn sich mein Schlafrhythmus halbwegs normalisiert hat, zerstöre ich ihn wieder. Doch woran liegt das? Um dies herauszufinden, muss ich nicht besonders tief in mich hineingehen. Es ist mir eigentlich sehr klar bewusst, was die Probleme sind:

1. Meine Begeisterung für das Horrorspiel Five Nights at Freddy’s, da es mich fesselt und zusätzlich Angst schürt, sodass ich nicht schlafen kann.
2. Meine Begeisterung für Serien. Hier kann ich als gutes Beispiel die Serie Vikings nennen, bei der ich nach drei Tagen die ersten beiden Staffeln fertig hatte und die dritte Staffel angefangen habe.
3. Der Vollmond. Hierzu will auch gar nicht so viel schreiben, ich empfehle aber den folgenden NZZ-Artikel zu lesen.
https://www.nzz.ch/wissen/wissenschaft/schlechter-schlaf-bei-vollmond-1.18123534

Das Schlafproblem ist wirklich mühsam, aber mühsamer ist der Umstand, und ich weiss, dass ich nicht der Einzige bin, der so denkt, dass alle Lehrpersonen ihre Aufgaben so schicken, als ob es sie nicht gefunden wollen werden. Das Ganze fühlt sich manchmal wie ein Puzzlespiel an, bei welchem man alle Teile zuerst suchen und zusammensetzen muss. Gefühlt die Hälfte der Lehrpersonen macht auch noch zusätzlich einen eigenen Kanal für das Fach auf, sodass wir SchülerInnen tausend Mal mehr Zeit dafür verwenden müssen, bis wir etwas finden. Ja, man gewöhnt sich dran und jetzt – nach all den Wochen - ist es auch kein Thema mehr, aber trotzdem hatte ich anfangs keine Ahnung, wo was hingehört.
Und wenn ich die Aufgaben gefunden habe, ist es auch noch eine Leistung, die Aufgabe am richtigen Ort zu deponieren, was den ganzen Puzzlespass noch erhöht. Ich weiss ja nicht, aber vielleicht ist das auch ein Grund für mein Schlafproblem. Die einen möchten es gerne per Mail bekommen, die anderen über Teams unter Aufgaben, die anderen über Teams Privatchat, wieder andere über OneNote…

Diese Herausforderungen konnte ich im Laufe der Zeit bewältigen. Doch wenn ich an die erste Woche denke… Ich verwendete den Grossteil der Zeit damit, die Teams-App zu verstehen. Dafür kann die Schule natürlich nichts, die meisten Lehrpersonen hatten sicherlich auch keine Ahnung von der App - also das vermute ich jedenfalls. Und wenn doch - danke für die Hilfe der Technikexperten. Wo seid ihr, wenn man euch braucht? Nachdem ich etwas herumgestreift bin und schliesslich meine eigene App-Irrfahrt beenden konnte, bemerkte ich, dass ich auch einfach schnell auf Youtube hätte gehen und mir ein Video hätte anschauen können, und die Sache wäre geritzt gewesen. Zu einfach! Was den Unterrichtsstoff angeht, würde ich sagen, dass er mehr oder weniger verständlich ist, man mehr oder weniger weiss, um was es geht, und wenn nicht, dann gibt es ja Klassenkameraden oder eben Youtube.

Dann hat man schliesslich alles gefunden und schon warten neue, gefährliche Herausforderungen auf einen. Die grösste Gefahr ist das Handy, ähnlich einem Raubtier schleicht es sich heran und ehe man sich versieht, frisst es sich langsam in dich hinein und die Konzentration ist weg. Oder man fängt an, herum zu kritzeln und ehe man sich versieht, verfängt man sich immer mehr und mehr in der Zeichnung, bis man um sechs Uhr abends merkt, dass man mit den Aufgaben schon hätte fertig sein sollen. Die dritte Gefahr ist die Küche. Mit der Langeweile steigert sich diese Verlockung. Und genau das ist das Gefährliche, denn sie führt dazu, mehrere Abstecher in die Küche zu unternehmen, den Kühlschrank zu öffnen, den Inhalt der Töpfe auf dem Herd zu inspizieren… Das alles frisst meine Zeit und Konzentration.

Ich würde zwar nicht sagen, dass es Misserfolge gibt, da man schlussendlich trotzdem fertig wird mit all den neuen Herausforderungen, es sei denn, man bezeichnet die verlorene Zeit als Misserfolg.
Um dies zu vermeiden, gilt es, und ja, ich weiss, ich klinge wie ein Lehrer, sich die Zeit einzuplanen, sich hinzusetzen und einfach das zu tun, was man zu tun hat. Man muss den Verlockungen widerstehen, auch wenn es nicht so einfach ist, so wie bei mir zum Beispiel.

Doch, um ganz ehrlich zu sein, es ist egal, ob ich mir die Zeit einplane oder nicht, solange ich mich wohlfühle und ich Ende der Woche mit meinen Sachen fertig bin, interessiert es doch auch wirklich niemanden. Aber eine gewisse Struktur ist in meinen Augen nötig, denn das Gefühl, eine Arbeit abzugeben, ist befreiend, und wenn es dann noch zufällig die letzte Arbeit der Woche ist, ist es noch befreiender. Das ist für mich ein Erfolgserlebnis und ich profitiere schlussendlich davon.
Wie auch immer - sollte man es schaffen, diese Aufgaben zu überwältigen, wird man nur eines: stärker.

Carlotta Busenhart (1b): Ein offener Brief
"Ätzend, wenn genau während des Klappmessers die Verbindung abbricht."

Liebe Schülerinnen und Schüler
Liebe Lehrerinnen und Lehrer

Die meisten werden wohl seit einiger Zeit von zu Hause arbeiten. Die Kommunikation erfolgt infolgedessen hauptsächlich über Videocalls, E-Mails oder in unserem Fall über Teams. Wer hätte schon gedacht, dass auf einen Schlag beinahe alle zu Hause bleiben und vollkommen auf das Internet angewiesen sind. - UPC anscheinend nicht. Unglücklicherweise mussten sich unzählige UPC-Kunden, so wie meine Familie, mit Störungen herumschlagen. Sei es bei einem wichtigen Business-Meeting oder bei der Online-Pilatesstunde. Es ist schon ziemlich ätzend, wenn genau während des Klappmessers die Verbindung abbricht. Oder wenn das Video über die Schlacht bei Marathon sich nicht richtig öffnen lässt oder das Dokument über Übungen zur Perfektbildung nicht rechtzeitig abgegeben werden kann.

Es ist aber noch ätzender, wenn man später erfahren muss, dass der Grund in der Familie liegt. Jemand hat den Stecker zum WLAN-Router gezogen. Es gibt viele Gründe, weswegen das WLAN den Geist aufgibt und es gibt auch viele Auswirkungen.

Auch mit Teams hat man schon viele Probleme. Trotzdem ist es die App, auf der ein Grossteil der Kommunikation stattfindet. Wahrscheinlich wäre Teams eine sehr praktische App. Gerade wenn man zu der Sorte Mensch gehört, die sich wirklich an den Lockdown hält und der Sozialkontakt etwas darunter leiden muss, bietet die Videofunktion auf Teams wenigstens ein bisschen Abwechslung. Der Videochat ist auch nützlich, um sich mit den Lehrpersonen auszutauschen über die Aufgaben, die erledigt wurden oder nicht erledigt wurden. Für Letzteres gibt es aber immer eine Erklärung, keine Ausrede.

Es geht darum, wie man die Aufgaben bekommt. Die drei favorisierten Arten der Aufgabenverteilung der Lehrpersonen sind offensichtlich per E-Mail, auf Teams in einem Team oder mit der Assignmentfunktion, und ich will auch gar nicht wissen, was für Möglichkeiten sonst noch existieren. Obwohl das jetzt nur drei Varianten sind, macht es alles ziemlich verwirrend.
Es ist auch verwirrend, wenn Lehrpersonen plötzlich für eine Woche mehr Aufgaben aufgeben als wir in diesem Fach bis jetzt insgesamt hatten. Ich werde hier jetzt keine Namen nennen.

Auf jeden Fall ist alles etwas verwirrender und etwas anstrengender, abgesehen von dem Schulweg, welchen man sich erspart und der Ausrede, jeglichen Sozialkontakt zu vermeiden.
Möglicherweise wäre all das nicht so anstrengend, würde man nur genügend Schlaf bekommen. Ich weiss nicht, wie es Ihnen so geht, aber ich persönlich schlafe auch unter der Woche viel weniger als normalerweise. Klar könnte man jetzt argumentieren, es ist ja auch keine normale Situation ist, aber ich glaube, es liegt eher daran, dass man sich wirklich abends überwinden muss, ins Bett zu gehen. Man hat einfach mehr Freiheit und abends, wenn man schlafen sollte, fühlt es sich mehr wie Ferien an. Ich schiebe die Schuld einfach auf andere.
Zum Beispiel auf alle Familienmitglieder, die irgendwelche Geräusche erzeugen, bevor ich eigentlich vorhatte, aufzuwachen. Wenn man als Familie nicht gewohnt ist, sich auch mittags und nachmittags zu sehen, kann es schnell passieren, dass die Geschwister nerven, wenn sie eigentlich nicht einmal so laut waren, und man sich über Dinge aufregt, über die man sich nicht aufregen sollte. Oft sind Menschen in für sie fremden Situationen schneller gestresst. - Also schlafen Sie alle mehr, das sollte helfen!

Zum Schluss möchte ich Ihnen allen aber noch einen Spruch auf den Weg geben, welchen ich vor nicht allzu langer Zeit in einem chinesischen Glückskeks gelesen habe: «Geben Sie die Hoffnung nicht auf, gemeinsam kann man alles schaffen.» Mit diesen letzten Worten möchte ich Ihnen einen schönen Tag und gute Gesundheit wünschen.

Liebe Grüsse Carlotta

Sophie Vanderhaegen (3e): Vermisst wird...
"Augenringe habe ich auch keine mehr."

Ich vermisse keineswegs das frühe Aufstehen. Eigentlich klingelt mein Wecker jeden Morgen um 6 Uhr, damit ich rechtzeitig in der Schule bin. Jeden Tag war es das Gleiche: Ich musste mich zwingen aufzustehen, ich musste im Halbschlaf frühstücken und ich musste völlig müde zum Zug gehen. Doch jetzt während des Distanzlernens kann ich ganze zwei Stunden länger schlafen, da mein Schulweg komplett wegfällt. Somit bin ich morgens nicht mehr so gestresst, kann mich besser aufs Arbeiten konzentrieren und Augenringe habe ich auch keine mehr.

Ich vermisse das tägliche Zusammensein mit meinen Freundinnen. Normalerweise sieht man jeden Tag in der Schule seine Freundinnen und Schulkameraden, geht mit ihnen zusammen Mittagessen und kann jederzeit mit ihnen reden. Man tauscht sich aus, man tratscht, man lacht. Auch nach der Schule hat man sich manchmal noch getroffen und Zeit miteinander verbracht. Doch jetzt fallen alle direkten sozialen Kontakte mit den Freunden wegen der Corona-Beschränkungen weg. Mir fehlt dieses Miteinander sehr.

Ich vermisse keineswegs die Prüfungen und den damit verbundenen zusätzlichen Lernstress. Klar hat man jetzt immer noch Aufträge, die benotet werden. Aber vorher musste man oft Hausaufgaben erledigen und darüber hinaus noch auf Prüfungen lernen. Selber sass ich manchmal bis zu zwei Stunden an meinem Schreibtisch, um die neuen Vokabeln zu pauken und den Grammatikstoff zu repetieren. Dies fällt jetzt alles weg, da beim Distanzlernen nur die ausgeführten Aufträge benotet werden, was für mich vieles erleichtert.

Ich vermisse die Möglichkeit, Diskussionen «face to face « in der Klasse zu führen. Bei diesen Diskussionen konnte man viel besser aufeinander eingehen, spontaner reagieren und schneller kontern. Klar kann man jetzt immer noch online via Zoom, Microsoft Teams etc. diskutieren, doch es ist viel umständlicher mit diesen Tools Diskussionen zu organisieren und diese durchzuführen. Diese ständigen Anrufe und Diskussionen über Videochat sind einfach viel zu zeitaufwändig. Generell fehlt mir dabei die persönliche Interaktion.

Ich vermisse keineswegs den durchgetakteten Tagesablauf. Während des Distanzlernens kann ich meinen Tag selber planen: Ich kann selber entscheiden, wann ich die jeweilige Aufgabe erledigen will oder welchen Auftrag ich zuerst bearbeiten will. Dies macht vieles entspannter. Das einzige Probelm ist, dass man sich selber motivieren und sich gut organisieren muss. Aber nach ein paar Tagen hatte ich alles gut im Griff. Ich sage nur: Übung macht den Meister!

Ich vermisse das «frei» sein. Normalerweise kann ich nach Lust und Laune irgendwo hingehen oder machen worauf ich Lust habe. Doch jetzt sind fast alle Läden, Kinos, Freizeiteinrichtungen etc. geschlossen und ich stecke quasi zu Hause fest. Man ist 24/7 mit seiner Familie zusammen und kann nicht wirklich weg, wenn es einem zu viel wird. Mir persönlich fehlt die Abwechslung und ich finde es kann ziemlich eintönig werden.

Ich vermisse mein Freifach «Tanzen», und zwar sowohl die sportliche Betätigung verbunden mit dem Spass als auch meine ganze Tanzgruppe inklusive Tanzlehrerinnen. Insbesondere bedauere ich es sehr, dass unser Musical verschoben und unser Auftritt am Landesmuseum abgesagt wurde.

Anastasia Kan (3d): Aus meinem Leben als Distanzlernerin
"Wir können warten."

Ich sehe die Quarantäne nicht als etwas Negatives. Ich bin fast froh, dass ich auch mal eine solche Zeit erlebe, damit ich nachvollziehen kann, was meine Grosseltern durchmachen mussten. Während diesem Lockdown hat man so viel Zeit, sich auf sich selbst zu fokussieren und Sachen auszuprobieren, die man bis jetzt noch nie machen konnte. So habe ich beispielsweise eine Art Tagebuch angefangen. Ich notiere einfach meine Gedanken, z.B. was ich mal erreichen möchte.

Auch finde ich die Quarantäne gut, weil man merkt, was im Leben wichtig ist und welche Personen immer bleiben und welche nicht. Ich habe herausgefunden, dass ich bestimmte Sachen gar nicht brauche und ich nicht alles als selbstverständlich ansehen sollte.

Ich finde eines der wichtigsten Sachen im Leben ist es Ziele zu haben. Ich sollte mich nicht von negativen Sachen ablenken lassen. Natürlich nehme ich alles, was auf dem Weg liegt, mit, aber ich muss mich nicht gezwungen fühlen, etwas zu tun. Ich will meine Denkweise verbessern.

Meine Familie und meine Freunde sind am wichtigsten. Aber auch die Leute, die das Beste für mich wollen und denen ich auch vertraue. Die Gesundheit von anderen ist mir wichtig. Ich will nicht, dass jemand leidet. Ich will, dass es allen gut geht und dass sie möglichst zufrieden sein können, und wenn ich helfen kann, dann ist es gut.

Ich habe gelernt, dass das Isolieren etwas mit Respekt vor Älteren und voreinander zu tun hat. Ich weiss, dass viele Jugendliche das noch nicht ganz verstanden haben. Ich finde, dass Menschen, die keine erkrankten Personen kennen, nicht realisieren, wie schlimm diese Situation ist. Sie gehen einfach raus, halten sich nicht an die Warnungen, sind somit egoistisch. Ich kenne Jugendliche, die sich so verhalten. Ich war eine Zeit lang wütend auf solche Leute. Ich verstehe schon, dass wir lange zu Hause sitzen und einander vermissen, doch wir sehen uns ja bald wieder. Wir können warten. Wir müssen nicht das Leben anderer Menschen aufs Spiel setzen, nur weil wir uns für eine Stunde treffen möchten.

Ich hoffe sehr, dass die Quarantäne bald vorbei ist. Doch ich finde es noch viel wichtiger, dass andere in Sicherheit sind.

Meret Widmer (1a): Corona-Dystopie
"Zerstörte Welt"

Der Pflasterstein knallte in die Fensterscheibe. Die Frau im Inneren des Hauses schrie verzweifelt auf. Doch Damion, der früher in eine der oberen Klassen unserer Schule ging und nun Anführer einer gefürchteten Jungenbande war, lachte nur höhnisch. Er und seine Bandenmitglieder drangen in das Haus ein. Sie durchsuchten das Haus nach Essbarem und Wertgegenständen, kippten dabei die Möbel um und zerbrachen das Geschirr. Die alleinstehende Frau, die versuchte, ihren Besitz zu verteidigen, wurde zusammengeschlagen. Ich schaute entsetzt von der Strasse aus zu, zog meinen Hund Arthus nah zu mir heran und schrie: «Hört auf!». Damion schaute aus dem Fenster, trat zur Tür und drohte: «Halt die Klappe und verschwinde, sonst seid ihr als nächstes dran.» Mutig betrat ich den Garten, machte mehrere Schritte auf Damion zu, doch Damion blieb in der Tür stehen, richtete nun seine Flinte auf mich und brüllte: «Ich erschiesse erst deinen Hund und dann dich.» Damion war schon immer als äusserst gewaltbereit bekannt gewesen, er hatte schon mehrere Menschen schwer verletzt und manche sogar getötet. Leider war ich nicht so mutig, wie ich wollte und rannte weg. Arthus folgte mir. Damions Worte hallten in mir nach. War es nur eine leere Drohung oder würde er auch zu uns kommen? Ich beschloss, meine tägliche Suche nach etwas Essbarem heute abzukürzen und möglichst schnell nach Hause zurückzukehren, insbesondere da die Plünderung nur wenige Strassen von unserem Haus entfernt stattfand.

Allerdings hatte ich heute noch nichts Essbares gefunden, deshalb musste ich trotz meiner Angst wenigstens noch etwas weitersuchen, da die Bäuche von Jakob und mir sonst heute leer bleiben würde. Jakob, mein Zwillingsbruder, war zuhause geblieben, bewachte das Haus und unsere letzten Vorräte. Ich schämte mich, fühlte mich schmutzig und dreckig. Ich hatte mich seit Tagen nicht mehr gewaschen. Mein blondes, langes Haar fiel verfilzt und voller Dreck herunter. Meine Hosen hielten an meinen abgemagerten Hüften nicht mehr. Mein früher eigentlich schönes Gesicht war eingefallen, meine Lippen waren aufgerissen und bluteten. Jakob sah genauso aus. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst.
Ich lief am leeren und zerstörten Lebensmittelladen vorbei. Das rief schmerzliche Erinnerungen in mir hervor. Ich sah mich mit meiner Mutter nach dem Fussballtraining in diesen Laden gehen, ein Brötchen kaufen, alle Regale waren voll und geordnet gewesen, es hatte gut nach frischem Brot gerochen, die Menschen hatten freundlich an der Kasse miteinander gequatscht. Doch jetzt, der Laden war leer, die Fenster eingebrochen, die Regale umgeworfen, die Menschen begegneten sich feindselig, kämpften um die letzten Vorräte und ihr Überleben, meine Mutter war tot.

Arthus, unser Hund, riss mich aus den Gedanken. Sein weiches Fell streifte meine Wade. Ich kraulte und streichelte ihn. Er schmiegte sich an mich und ich musste trotz all der Umstände lächeln. Er half mir, nicht völlig zu verzweifeln. Die meisten Katzen und Hunde waren keine Haustiere mehr, sondern Streuner. An der Strassenecke sah ich zwei abgemagerte Hunde aufeinander losgehen, um ein kleines Stück Essensabfall kämpfen und sich schreckliche Wunden zufügen. Auch wir konnten Arthus nur noch selten füttern, er war jetzt vornehmlich auf sich allein gestellt. Doch nachts kuschelten wir uns immer gegen die Kälte aneinander.

Mir stieg ein übler Gestank in die Nase. Es war der Müll, der auf der Strasse vergammelte, weil niemand ihn mehr abholte. Ein verdreckter Mann riss einen Müllsack auf und stocherte darin herum. Mir wurde schlecht vom Gestank. Ich musste würgen und auch Arthus schüttelte die Schnauze. Mein Blick fiel auf ein kaputtes Handy, das aus der Mülltüte hervorschaute. Früher dachte ich, dass ich nie ohne Handy würde leben können, doch nun wusste ich, dass das ging. Es gab keinen Empfang und keinen Strom mehr, um den Akku zu laden.
Ich bog in den Garten meiner Freundin, sie hatte mit ihrer Familie die Stadt verlassen, da Plünderer ihr Haus unbewohnbar gemacht hatten. Ich hoffte, in ihrer Gartenlaube in unserem Geheimversteck noch Vorräte zu finden. Doch die Gartenlaube war zerstört. Immerhin fand ich am Ende des ehemals wunderschönen Gartens mehrere verschrumpelte Kastanien, die würden Jakob und mir immerhin ein leichtes Sättigungsgefühl geben. Ich erinnerte mich daran, wie ich früher mit meiner Mutter Kastanientiere gebastelt hatte. Der Gedanke an meine Mutter liess die Erinnerung an die letzten Tage meiner Eltern vor mir auferstehen. Meine Eltern waren so schwach geworden, rangen nach Luft, röchelten. Mir ging es selber nicht so gut, ich war schrecklich müde und fühlte mich schwach. Ich konnte nur neben meinen Eltern sitzen und hoffen, dass alles wieder gut werden würde. Aber das wurde es nicht. Bei meiner Mutter kam das Ende früher. Sie bekam einen schrecklichen Hustenanfall, der nicht aufhörte, schnappte nach Luft, dann plötzlich Stille. Meine Mutter erstickte in den Armen meines weinenden Vaters. Kurz darauf starb mein Vater. Ich war so wütend auf die Welt, auf alle Menschen und besonders auf das Coronavirus. Das Virus hatte unser System zerstört. Zunächst die Krankenhäuser, diese waren hoffnungslos überlastet und nahmen keine Patienten mehr auf. Die Betten waren voll, die Patienten lagen in den Gängen auf dem Boden, die Toten stapelten sich in Lastern vor den Türen, die Mehrzahl der Ärzte und des Pflegepersonals war selber krank, da Schutzmaterialien, wie Masken und Desinfektionsmittel, ausgegangen waren. Dann waren so viele Leute krank oder tot, dass auch der Nachschub mit Lebensmitteln, die Strom- und Wasserversorgung sowie die Müllabfuhr nicht mehr klappten. Alles war zusammengebrochen, dazu kamen die Plünderungen. In dieser kaputten Welt war man nahezu chancenlos, insbesondere wenn man wie Jakob und ich erst 13 Jahre alt war und niemanden hatte, der sich um einen kümmerte.

Ich durchsuchte noch eilig ein Gebäude und einen Garten nach Nahrung, doch fand nichts mehr. Mit fast leeren Händen kehrte ich zu Jakob zurück. Arthus kam nicht mit, sondern suchte alleine weiter. Als ich ankam und Jakob merkte, dass ich kaum Nahrung hatte, war er enttäuscht und traurig, aber wusste, dass ich nichts dafür konnte. Wir hatten aufgehört zu streiten, als unsere Eltern gestorben waren. Früher hatten wir uns immer gezankt, doch jetzt war das belanglos. Wir kämpften einfach Seite an Seite um unser Leben.
Ich berichtete Jakob von Damion und seiner Bande. Wir schlossen uns in unserem Notraum im Keller ein. Hier hatten wir unsere letzten Vorräte und Wertgegenstände versteckt und ein Matratzenlager errichtet. Wir verrammelten die Tür und assen die Kastanien. Plötzlich hörten wir Geräusche über uns. Die Haustür wurde eingebrochen. Man hörte polternde Schritte und Stimmen. Ich erkannte die von Damion. Jetzt bekam ich Panik, wie Ameisen lief mir ein Schauer über den Rücken. Mein erster Instinkt war, Jakob an die Hand zu nehmen und zu flüchten. Doch um flüchten zu können, hätten wir an den Eindringlingen vorbeigemusst und vor allem hätten wir unsere letzten Vorräte zurücklassen müssen. Das hätte unsere Überlebenschancen deutlich verringert. Jakob schlich an die Tür und stellte sich mit einem erhobenen Holzscheit direkt dahinter. Ich hockte mich hinter einen leeren Schrank. Meine Finger krallten sich in das Holz. Ich fing an, wie verrückt zu schwitzen. Oben wurde die Küche durchsucht, doch da hatte es nichts mehr. Ich schloss die Augen und hörte, wie die Eindringlinge die Kellertreppe heruntergepoltert kamen. Sie kamen zu unserer Tür, versuchten sie zu öffnen und rüttelten daran. Unsere Barrikade hielt jedoch. Doch dann traten die Eindringlinge auf Damions Kommando gemeinsam auf die Tür ein. Sie knarrte und Holzsplitter am Rahmen lösten sich. Noch zwei kräftige Tritte und sie gab ächzend nach, unsere Barriere wurde zur Seite geschoben. Damion stürmte als erster in den Raum. Jakob liess das Holzscheit auf seinen Kopf heruntersausen. Doch Damion schüttelte sich nur leicht und nagelte Jakob sofort an den Boden. Ich überlegte fieberhaft, was ich tun sollte. Die Jungen hatten mich noch nicht gesehen. Wenn ich mich zeigte, würde ich Damion zwar von Jakob weglocken können, doch er würde dann mich in die Zange nehmen und ein anderer Junge würde Jakob wieder fassen. «Was soll ich nur tun?», fragte ich mich. Da sah ich, dass Damion seine Flinte zur Seite legte, ein Messer hervorholte und es Jakob an den Hals hielt. Er flüsterte Jakob etwas zu und lachte. Ich stiess vor Entsetzen einen markerschütternden Schrei aus. Damion schaute auf, hielt Jakob aber weiterhin das Messer an die Kehle und befahl seinen Kumpanen, mich zu fassen. Ich dachte innerlich: »Jetzt ist es vorbei. So endet es.« Ich schloss die Augen, bereitete mich auf den Tod vor, erwartete, dass mein Herz aufhören würde zu schlagen. Doch das passierte nicht. Stattdessen hörte ich ein neues Geräusch. Etwas rannte die Kellertreppe hinunter. Ich nahm alles nur verschwommen wahr, da ich Tränen in den Augen hatte. Damion und seine Bandenmitglieder schauten sich um, um zu sehen, wer kam. Da sah ich unsere letzte Hoffnung. Arthus hatte meinen Schrei gehört und war zur Hilfe geeilt. Er biss Damion in die Wade. Vor Schreck schnitt Damion Jakob in den Hals, wandte sich dann aber Arthus zu. Jakob blutete stark am Hals, aber nutzte trotzdem die Gelegenheit, um nach der Flinte zu greifen, doch ein anderes Bandenmitglied ging dazwischen. Jakob wurde sofort wieder überwältigt, er war ja viel jünger und kleiner als die anderen und zudem noch verletzt. Arthus kämpfte ebenfalls tapfer, hatte aber keine Chance gegen Damion mit dem Messer. Er gab aber nicht auf und verteidigte uns aufopferungsvoll. Das befreite mich aus meiner Schockstarre. Niemand richtete während des Tumults seine Aufmerksamkeit auf mich, also konnte ich die Jagdflinte unbeobachtet mit dem Fuss zu mir herüberziehen. Ich nahm die Waffe hoch, sah wie Arthus von Damion aufgeschlitzt wurde und jaulend seine letzten Atemzüge tat. Wenn ich das vollenden wollte, was Arthus geplant hatte, nämlich Jakob, die Vorräte und mich zu retten, musste ich die Waffe auf Damion richten, abdrücken und zur Mörderin werden. Ich betätigte den Abzug.

Lena wachte schweissgebadet auf. «Ist das gerade wirklich passiert?», fragte sie sich. Sie schaute sich verzweifelt um. Sie hatte kalt, fühlte sich elend und hatte Mühe zu atmen. Doch sie stellte erleichtert fest, dass sie zuhause in ihrem Bett lag. Ihre Mutter rief unten Jakob und ihren Vater zum Essen, Lenas Essen wurde vor ihre Tür gestellt. Arthus, der am Fussende ihres Bettes geschlafen hatte, streckte alle Viere von sich und gähnte laut. Schlagartig war Lena wieder in der Realität. Sie bemerkte, dass es nur ein Fiebertraum gewesen war.
Lena war an Covid-19 erkrankt, hatte hoch Fieber und war in Hausquarantäne. Ihre Familie sprach nur durch die geschlossene Tür mit ihr, ihre einzige Gesellschaft war Arthus. Aber noch funktionierte die Welt um sie herum.
Der Traum hallte in ihr nach. Sie sah die Gefahren des Zusammenbruchs der Gesellschaft mit dem Verlust der Infrastruktur und dem Verlust der Menschlichkeit plastisch vor sich. Konnte das auch in Realität passieren? Würde das Virus die Welt zerstören, so wie Lena sie kannte?